Sonntag, 11. Oktober 2015

Religion muss endlich Privatsache werden!

Am Individuum führt sowieso kein Weg vorbei.

Was der Einzelne glaubt, ist ausschließlich sein persönliches Problem, denn jeder kann nur jeder für sich selbst herausfinden, was er mit der Vernunft in Einklang bringen kann und was nicht. Erziehung bzw. Indoktrination üben einen starken prägenden Einfluss aus, der aber im Laufe des Erwachsenwerdens gegenüber eigenen Überzeugungen verblasst - oder durch diese Bestätigung erfährt.
      
Dass viele Deutsche dem Zustrom von Migranten aus dem Nahen Osten mit Skepsis und Sorge verfolgen, hat viel mit 'politischer Religion' zu tun. Wie der Bundesinnenminister in einer Bürgerdialog-Runde feststellte, erzeugt der Islam hierzulande weit mehr Vorbehalte als andere Glaubensrichtungen und Weltanschauungen.
Dabei ließe sich das Zusammenleben von Menschenweitaus komplikationsärmer gestalten - theoretisch zumindest:
Leben und Leben lassen. 
Jedem das Seine.
So trivial diese beiden Grundsätze auch klingen mögen, so bedeutsam ist doch ihre Verwirklichung.
Persönlich hänge ich weder atheistischen noch agnostischen Vorstellungen an. Im Gegenteil, ein Leben ohne jeden spirituellen Bezug erscheint mir armselig, als ob das Salz in der Suppe fehlte.
Aber: Es erscheint mir absolut unzulässig, andere Personen von meiner weltanschaulichen Vorstellung überzeugen geschweige ihnen selbige aufzwingen zu wollen.
Tatsache ist: Eine wachsende Anzahl Menschen wendet sich angewidert von jeglicher Art Spiritualität  ab, da sie Religionen als die Hauptursachen für Hass und nie endenden Krieg auszumachen glauben.



Theorie und Realität

Hierzulande sieht das Grundgesetz die Trennung von Kirche/Religion und Staat vor, d.h. Kirchenzugehörigkeit und der persönliche Glaube jedes Einzelnen sollen im rein privaten Bereich gelagert sein, als individuelle Gewissensentscheidung.
Tatsächlich ist diese an sich erstrebenswerte Zielsetzung keineswegs umfassend verwirklicht. In Deutschland besteht schon durch die sog. gesetzlich geregelte Kirchensteuer, insbesondere aber durch die staatliche Subventionierung sozialer Einrichtungen mit kirchlichem Träger, eine vielfältige Verzahnung von Staat und Kirche. Welcher andere Verein hat Gelegenheit, sich zur Einnahmenverwaltung staatlicher Ressourcen zu bedienen?

Freilich hat das Staats- und Gesellschaftswesen vieler westlicher Staaten in dieser Hinsicht einen Vorsprung vor jenen islamischen Ländern, welche die Scharia in ihrer Verfassung verankert haben und an 'islamischen Menschenrechten' festhalten. Für mich ein Widerspruch in sich - Grundrechte implizieren einen universalen Anspruch, welcher naturgemäß nicht durch eine Weltanschauung (egal welche!) verfärbt werden darf.
"Im islamischen Bereich sind Glaube und Religion dagegen grundsätzlich öffentliche, gemeinschaftliche Angelegenheiten mit gesellschaftlicher Tragweite."(1)
Wo religiöse und staatliche Ordnung einander bedingen, wird Apostasie auch als Hochverrat gegenüber dem Staat angesehen. Dies war sowohl in der Geschichte des Christentums als auch der Hebräer sehr lange ein zentraler 'Erfolgsfaktor', auch wenn dies heute mitunter verdrängt wird.

Heute wird 'bei uns' die individuelle Gewissensentscheidung nicht staatlich sanktioniert - ein Verdienst der Aufklärung, nicht eines inneren Sinneswandels der Kirchen. Die Haltung 'Ordnung muss sein' ist hierzulande dennoch weit verbreitet: Eine wachsende Angst vor einer "Islamisierung" gesellschaftlicher und soziale Strukturen erwächst doch aus der Furcht, hier könnten die bisherige Ordnung und der gesellschaftliche Konsens zusammenbrechen, falls 'der Islam ans Ruder kommt'.
Wir gestehen zwar dem einzelnen Menschen die Entscheidungsfreiheit in religiösen Fragen zu - aber 'bitte nicht so viele Frauen mit Schleier und bärtige Männer im Kaftan'...
Die Ansicht, nach der Religion und Glaube ausschließlich Privatsache sein (und ausschließlich der privaten/persönlichen Handhabung unterliegen) sollte, ist hierzulande wenig verbreitet und noch weniger verwirklicht.

Dabei kann (und darf) jedes Individuum nur für sich selbst herausfinden, welche Glaubensvorstellung es mit seinen Einsichten  und 'seiner' Vernunft in Einklang bringen kann. Wer an Gott/Götter glaubt oder an eine übernatürliche, nicht personale Kraft, macht das nur mit sich aus und dem, an den/das er glaubt.
Was im inneren Menschen vorgeht, ist letztlich frei von Einblicken und Einflüssen der Außenwelt.

Religiöser Unfriede kann nur dort entstehen, wo Glaube/Religion nicht als Privatangelegenheit angesehen wird, d.h. wo Menschen einander Vorschriften machen oder die jeweils 'Ungläubigen' zwangsbekehren bzw. aus dem Weg räumen wollen. Andererseits kann auch Religionsfreiheit nicht im sozialen Vakuum entstehen bzw. geschützt werden:
"Die Religion als unverfügbare Freiheit zu betrachten heißt kurioserweise, sich auf den weltanschaulich neutralen Staat fest zu verlassen. Wer den nicht als Schutz hat, ist nicht mit Sicherheit frei – sondern lebensgefährlich frei."(2)
Erst durch ein solches Staatswesen könne Glaube zur Privatsache werden, jedenfalls solange man als Glaubender das staatliche Gewaltmonopol achtet und mit dem Gesetz auch sonst nicht in Konflikt kommt, schreibt Elisabeth von Thadden.
Für sie ist es zulässig, seinen Glauben in die Öffentlichkeit zu tragen, ihn zu feiern, ihn 'mit guten Gründen politisch' werden zu lassen.

Diese Zulässigkeit bestreite ich. Wie kann Glaube denn Privatsache werden/bleiben, solange er von seinen Befürwortern zum Maßstab staatlichen Handelns gemacht wird? Politik kann zwar naturgemäß nicht wertneutral sein, doch sie sollte den Glauben da lassen, wo er hingehört: im privaten Bereich und im Kreise gleichgesinnter Menschen.



Religiöser Unfrieden ist keine Privatangelegenheit.

Wo Religion zur öffentlichen oder gar zur politischen Gestaltungsoption erhoben wurde und wird, befeuert sie Diskriminierung Andersdenkender, Gewalt und sogar Kriege.
Geistig gesunde Menschen wollen nichts weniger als diese Auswüchse, aber muss man dafür in Glaubensfragen den Mund halten? 

Friedvolle Koexistenz setzt gegenseitigen Respekt voraus - sowie das Unterbleiben offensiver (belästigender) Missionstätigkeit, die im öffentlichen Raum nichts, aber auch gar nichts zu suchen hat. Dies gilt meiner Ansicht nach sowohl für lebende Wachturm-Plakatständer als auch für das aufdringliche, manchmal unerträgliche Dawa-Geschrei von Islamisten.
Dergleichen sollte nicht verboten, sondern sehr konsequent auf geeignete Veranstaltungsorte (am besten schallgeschützte Räume) begrenzt werden. Gleichbehandlung und Friedenspflicht für alle 
Glaubensrichtungen, Paradigmen und Sekten - einschließlich religionsfeindlicher Atheisten und Darwinisten - steht dabei im Vordergrund. Wer Interesse hat, kann Jehovas Zeugen, Darwinisten, Evangelikale oder Salafisten dort aufsuchen und ungestört (sowie niemanden störend) mit ihnen 'die anderen' als Ungläubige verdammen. Aber so, dass jene 'Ungläubigen' von deren Getue und Gebrülle verschont bleiben.
Dem Gleichheitsgrundsatz folgend, würde eine solche Friedenspflicht für alle  finden. Glockengeläut und Minarette fallen auch darunter, wenngleich ich mir lokale Regelungen durchaus vorstellen kann.

Gegen einschlägige Veröffentlichungen in Medien und im Internet ist nichts einzuwenden, denn dort sind der Freiwilligkeit des Zugangs keinerlei Grenzen gesetzt...anders, als z.B. mitten in der Fußgängerzone, wo man sich der optischen und verbalen Präsenz von Eiferern nicht immer entziehen kann.

Patrik Schwarz(2) argumentiert dagegen, Religion sei immer auch eine öffentliche Angelegenheit. Dies trifft gegenwärtig noch zu, leider. Denn aus dieser unheilvollen Verquickung ergeben sich immer wieder Konfliktpunkte - die leicht vermieden werden könnten, ohne den Einzelnen in seiner (persönlichen) Glaubensausübung nennenswert zu beschränken.
Schwarz beschreibt das Bild einer einsame Nonne: "[sie] sitzt da, in stiller Anbetung, vor einer goldgeschmückten Monstranz, darin die Hostie. Es ging ungeheurer Friede aus von diesem Bild, aber auch eine Provokation: Vergeudet da nicht eine Frau ihr Leben?"

Auch hier gilt: Es obliegt doch wohl allein ihr, dies mit sich selbst auszumachen. Niemand sonst hat sich daran zu stören. Was ist an stiller Anbetung in einer Kirche provokativ - außer für jenen Typ Mensch, der andere nicht ihr eigenes Leben leben lassen kann/will?
Ob man im Bild dieser Nonne nun ein "inneres Leuchten" oder "eine ungute Mischung aus Herzenshärte und mühsam verkniffener Leibeslust" auszumachen glaubt, wen hat's zu interessieren? Die sogenannte Wahrheit liegt, 
wie fast immer, im Auge des Betrachters.
"Und dann die Hostie: Wie kann man im Ernst ein Stück Brot anbeten?"
Privatsache. Und wieder gilt: Glauben und glauben lassen. Mit der TV-Übertragung von Gottesdiensten, Predigten oder Päpsten im rollenden Panzerglas-Käfig habe ich nicht das geringste Problem: längst verfügen wir über eine so große Programmvielfalt, dass wirklich niemand 'gezwungen' ist, dem hermelinbekleideten Ratzinger oder einer Franziskus-Show seine Aufmerksamkeit zu schenken.
"Es weht mich daher auch nicht länger folkloristisch an, dass Katholiken gelegentlich ihre Monstranz zur Demonstranz machen und an hohen Feiertagen die Hostie in einer Art 'ChristPrideParade' durch die Straßen tragen. Sie zeigen sich und der Welt ihr Heiligstes, und das ist gut so."
Was genau soll daran gut sein? Mich jedenfalls 'weht das an' (schon weil ich als Kind genötigt war, in zig Prozessionen mitzuschlurfen ...bei jedem Wetter ). Es gibt hinreichend Kirchentage und sonstige Veranstaltungen, wo Kirchen an geeigneten Plätzen ihre Imagepflege betreiben können - vor einem interessierten und freiwilligen Publikum. Eine Prozession erfordert es jedoch oft, sonstige Verkehrsteilnehmer anzuhalten oder umzuleiten - das geht in meinen Augen über die Freiheit des einzelnen hinaus. Zugegeben, in manchem bayrischen Dorf mögen die Verhältnisse anders liegen ...weil eh' jeder mitschlurft.
Indessen kann eine Unterweisung in Glaubensfragen zweckmäßig sein - sofern sie dem erkennbaren, geäußerten Wunsch des Unterwiesenen entgegen kommt. Mit 'Überredung' zum Glauben, schlimmstenfalls durch eine Trickkiste vordergründig plausibler Argumente, ist dagegen niemandem gedient.
Schwarz erklärt, er wende sich gegen "Besserwisser, die in dicken Büchern schreiben, warum Glauben schlecht sei für den seelischen und politischen Frieden – also dumm macht oder tot".
Darin stimme ich zu. Persönlicher Glaube macht niemals "dumm oder tot" (jedenfalls keine unbeteiligten, 'unschuldigen' Personen). Die Gefahr kollektiver Verdummung entsteht erst, sobald die Institutionalisierung des Glaubens einsetzt, wodurch sich Religion mit Dominanz und Machtstreben vermischen kann und zu einem Vehikel für fragwürdige Interessen wird.

Wenn dann wieder über Glaube gestritten wird (ein Unding!), ist er nicht länger Privatsache.

Sicher, den Kirchen und religiösen Organisationen kann die 'Privatisierung' des Glaubens nicht gefallen - schließlich leben sie davon, ein Individuum bereits im Säuglingsalter zu vereinnahmen und ihm den Stempel der Zughörigkeit aufzudrücken. Was hat das eigentlich mit Religionsfreiheit zu tun?
Über das Ziel, durch 'Traditionen' Einnahmen zu generieren, sprechen sie freilich nicht - sondern von ihrem Auftrag"das Evangelium, Gottes frohe Botschaft, in Wort und Tat zu verkündigen und die Gemeinschaft untereinander an Christus auszurichten". Der Kirche müsse es deshalb darum gehen, "die Bedingungen zu befördern, unter denen die "Erkenntnis der Wahrheit", der Glaube wachsen kann."
Das kann sie meinetwegen versuchen, aber bitte fair, d.h. nur an jenen, die selbständig denken können. Nicht an Babies und Kids im Grundschulalter.
Allerdings sehe ich auch die Schwierigkeiten, welche sich aus einem gesetzlichen Verbot solcher Praktiken ergäben: Zu tief sind Kindertaufe, Beschneidung usw. in Traditionen sämtlicher mosaischer Religionen verwurzelt. Eine Abkehr davon kann m.E. nur durch Aufklärung und Einsicht bewirkt werden ...ein langer Weg.


Quellenangaben/Literaturhinweise

  1. "Der Abfall vom Islam – Schariabestimmungen und Praxis", Prof. Christine Schirrmacher (→ PDF)
  2. "Ist Religion Privatsache?" - Pro-/Contra-Erörterung auf ZEIT.de