Samstag, 28. Juli 2012

“Roma – die Anderen essen Hunde” (HR/arte 2007)

Die beiläufige Bemerkung eines Taxifahrers führte mich zu der Frage, wer ‘Zigeuner’ eigentlich sind. Er habe die Erfahrung gesammelt, diese Menschen seien zu 80 Prozent unredlich…kein Hörensagen oder Weitergeben von Gerüchten sei das, sondern ein Resultat aus über 30 Jahren Berufspraxis.
Mangels persönlicher Gegenwartsbegegnungen mit Roma und Sinti ist mir selbst das Wort ‘Zigeuner’ nur als veraltete, abfällige Bezeichnung für fahrendes Volk in Erinerung, das zu meiner Kindheit jährlich mit einem winzigen Wanderzirkus ins Dorf kam und etwa drei Wochen blieb. Striktes Verbot meiner Eltern, sich mit “diesen Leuten einzulassen”. Meine eigene, streberhafte Belustigung als Zehnjähriger, dass einige Gleichaltrige deutliche Probleme mit Pronomen hatten…
Tatsächlich hat das Wort ‘Zigeuner’ zweierlei Verwendung:
  • Es dient als Sammelbegriff für Klischeevorstellungen, zu denen Nicht-Sesshaft-sein ebenso zählt wie melancholische Musik und Lagerfeuerromantik…bis hin zu pauschal, bedenkenlos geäußerten Vorurteilen: “Zigeuner sind Landstreicher, sie sind schmutzig, sie betteln, sie stehlen und betrügen…”.
  • Heute leben in der Bundesrepublik nach verschiedenen Schätzungen etwa 100.000 Sinti und Roma, die diskriminierend ebenfalls als "Zigeuner" bezeichnet werden. Eigenbezeichnungen wie Roma und Sinti haben eine andere Bedeutung als „Zigeuner“, sie benennen ein Volk mit eigener Sprache, Geschichte und Tradition. Außerhalb des deutschsprachigen Raumes ist Roma der Sammelbegriff für alle Zigeuner, auch für Sinti.
Roma ist der Oberbegriff für eine ethnisch verwandte, ursprünglich aus dem indischen Subkontinent stammende Bevölkerungsgruppen, die ab dem 14. Jahrhundert in mehreren, oft genug unfreiwilligen Migrationsschüben über Vorderasien nach Nordafrika und Europa gelangten, später auch nach Amerika und Australien.
Roma leben als ethnisch-kulturelle Minderheit auf allen Kontinenten, in ihrer großen Mehrheit jedoch in Europa und dort vor allem in Südosteuropa und einigen mitteleuropäischen Staaten, sowie in Spanien und Frankreich.

Die in eine Vielfalt von Dialekten ausgeformte gemeinsame Sprache der Roma ist das Romani/Romanes.
Sehr viele Angehörige der Minderheit werden sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als auch aufgrund ihrer sozialen Situation marginalisiert und stehen so im Schnittpunkt zweier Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung. In manchen europäischen Staaten sind sie über eine gesellschaftliche Randstellung hinaus noch in jüngster Zeit offener Verfolgung ausgesetzt gewesen oder noch ausgesetzt. (vgl. Zigeuner.de/ Wikipedia)
Aus dem Begleittext zum Film:
"Was gefällt euch besser, Zigeuner oder Roma" , fragt der Mann hinter der Kamera die Kinder, die gerade einen Streit um gestohlene Kartoffeln hinter sich haben. "Zigeuner" sagen sie grinsend, und so nennt Filmemacher Stanislaw Mucha auch seine Doku.
Zigeuner sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe Europas: Derzeit leben zwischen sechs und elf Millionen Sinti und Roma auf dem Kontinent. Stanislaw Mucha versucht ihnen auf einer 30-tägigen Reise durch die Ostslowakei näher zu kommen und will dabei auch mit vielen Klischees aufräumen."
Erster Eindruck: schon der Besuch eines Fernsehteams in einer kleinen Roma-Siedlung bewirkt, dass dort die Emotionen hochschlagen; das gesamte Dorf ist auf den Beinen und bewundert die Sensation.

Für mich wird durch diesen Film manches in Erinnerung gerufen, was im Alltagsleben leicht verdrängt bleibt: Auch mitten in Europa leben Menschen, die keineswegs ‘aus dem Gröbsten raus’ sind – unter teilweise erschreckenden Umständen.
Familien mit mehr als 10 Kindern sind keine Seltenheit - “Ein Roma hat so viele Kinder, wie der Herrgott ihm gibt” - wobei nicht immer klar wird, womit ihre Eltern sie am Leben erhalten. Offenkundiger Mangel am Nötigsten bis hin zu Anzeichen der Verwahrlosung. Berufswunsch der Kinder? “Model oder Prostituierte”, sagt ein Mädchen im Film.
Wenig später deuten Hinweise auf hohe Kindersterblichkeit und Ausbleiben gesundheitlicher Versorgung auf mögliche Ursachen dieser für Europa untypischen Geburtenrate hin.


Elektrizität und fließendes, sauberes Wasser sind alles andere als selbstverständlich, als Abort muss der nahegelegene Wald dienen – oder die Hauswand. Ärztliche Versorgung, medizinische Betreuung? Kommt vor, wenn man Glück hat.

Auch untereinander mag man sich nicht: “Die im Nachbardorf fressen Hunde”, ist offenbar ein geflügeltes Wort, um ein Bildungs- und Moralgefälle herbeizureden und die eigene Sippe wenigstens insoweit aufzuwerten. Tatsächlich scheint der Verzehr vierbeiniger Haustiere zur Tradition mancher Roma zu zählen (?).
(Als einer der Wortführer sich bemüht, glaubhaft die anderen Ortschaften aufzuzählen, wo Hunde gegessen werden, plappert eines der vielen Kinder dazwischen: “Doch, wir essen sie auch!” – Patsch, die unvermittelte Ohrfeige war sicher schmerzhaft.
Drogenkonsum? Kommt nicht ausdrücklich zur Sprache, doch der Augenausdruck einiger Heranwachsender wirkt leer und dumpf.
Es scheint ein Teufelskreis zu bestehen zwischen Ausgrenzung, Identitätssuche, Armut, aber bisweilen auch trotziger Verweigerung jeder Veränderung und die Anspruchshaltung, die EU müsse einen mit allem Nötigen versorgen (ohne Bedingungen daran zu knüpfen). Generationen werden konditioniert, öffentliche Finanzhilfen trickreich zu nutzen, ohne sich selbst weiterentwickeln zu müssen/dürfen. Lange Zeit keine Arbeit zu haben führt mitunter dazu, dass man bereitwillig auf so eine Tretmühle verzichtet. Dann schon lieber die Mitleidsnummer vor den Fernsehleuten aus dem reichen Deutschland…

Bequemlichkeit sowie Desinteresse an einer Lebensperspektive vor allem Unwissenheit lassen sich kaum wegdiskutieren: in vielen der im Film gezeigten Siedlungen würde die Gelegenheit zur bescheidenen Haltung von Nutztieren wohl bestehen – immer noch besser, als im Müll der ‘Weißen’ nach Essbarem zu suchen. Andererseits fehlt, auch im Film, der Blick auf Hintergründe und Details (wäre Nutztierhaltung überhaupt zulässig?).
So viel wird klar durch den Film: wer die ‘Zigani’ vordergründig nur als Bettler, Schnorrer und Diebe (oder halt Hundefresser) sieht, verkennt völlig die historischen und gegenwärtigen Ursachen ihrer Lebenslage.


Dabei entsteht der Eindruck, diese Menschen sollen mit möglichst wenig Mittel- und Ressourceneinsatz irgendwo 'am Rand' geparkt werden, wo sie wenig auffallen und das harmonische Stadt- und Gesellschaftsbild nicht stören. Gheottoisierung draußen am Stadtrand ist eher eine Alternative für gewählte Politiker. Kommentare der lokalen Politikgrößen in ehemaligen Ostblockstaaten über ‘das Roma-Problem’ reichen von Zynismus und absurden Vorstellungen aus der früheren Diktatur bis zu ehrlich eingestandener Hilflosigkeit.

Antiziganismus, Ablehnung, Gewalt und Diskriminierung gegen Roma in EU-Staaten sind also nach wie vor an der Tagesordnung.


Lösungsansatz? 


Schwierig, wo schon eine faire, sachliche Beschreibung der komplexen Lebenssituation von Roma und Sinti nicht unproblematisch ist. Eine oberflächliche Betrachtung einzelner Lebensumstände reicht niemals aus, um geeignete Wege zu finden, die über bloße Behandlung von Symptomen hinausgehen.
Ein eigener Verwaltungsraum mit teilweiser Autonomie? Kaum vorstellbar, dass sich ein EU-Staat bereit fände, auch nur einen großen Teil der Millionen Roma dauerhaft zu beherbergen und ihnen eine echte Perspektive zu eröffnen.
Auch darf bezweifelt werden, ob eine derartige Patentlösung überhaupt die gewünschte Wirkung haben würde.

Vielleicht liegt in dieser Unmöglichkeit einer Lösungsfindung der Grund, dass Filmemacher Stanislaw Mucha von Kommentaren und Analysen fast vollständig absieht. Er lässt seinen Film und die darin erscheinenden Menschen “für sich sprechen”. Ob so ein unverzerrtes Bild entstanden ist...?
Die Frage nach dem Wohlergehen von zum Verzehr geeigneten Hunden in Roma-Siedlungen scheint Mucha immerhin sehr interessiert zu haben…





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Ein etwas anderes Bild vermittelt der Film “Zigeuner in Deutschland – Tradition ist alles”; hier geht es weniger um das Existenzminimum als um verschiedene Lebensgewohnheiten und die hierzulande so oft gestellte Integrationsfrage.
Im Grunde liegen die Notwendigkeiten diesbezüglich doch auf der Hand: Gastfreundschaft setzt die Freundschaft des Gastes voraus – was freilich nicht bedeutet, eigene Traditionen komplett über den Haufen zu werfen.


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